Die Künstlerin Florence Jung hat in Zusammenarbeit mit dem Museum für Gegenwartskunst Siegen, die digitale Kunsterfahrung “Sam” entwickelt. Die gleichnamige App “Sam” ist im Apple App-Store und im Google Playstore kostenlos zum Download verfügbar. Im Interview erzählt Florence Jung unter anderem, wer die fiktive Figur Sam ist, warum sie sich dafür entschieden hat, ein textbasiertes Werk zu erschaffen und wie sie digitale Kunsterfahrungen in der heutigen Zeit einordnet.
Florence, für das vierte Teilprojekt von Offene Welten wurdest du von MGKSiegen eingeladen, ein Konzept für ein digitales Projekt zu entwickeln. Wie sieht deine künstlerische Praxis normalerweise aus? Hast du schon einmal digital gearbeitet?
Das Hauptthema meiner Arbeit kann man sich als einen Mann vorstellen, der nach Hause kommt und von Zweifeln geplagt wird. Während er weg war, scheint sich alles verändert zu haben: die geografische Lage seines Viertels, der Staub auf seinen Möbeln und sogar – ganz subtil -– das Gesicht seiner Frau … Wochen vergehen, es treten verschiedene Symptome auf: Ein Zustand des ständigen Misstrauens, ein chronisches Gefühl der Unterdrückung, eine wachsende Neigung zur Langeweile, der Wunsch zu fliehen, als einzigem Ausweg… Dieser Mann beschließt, alle E-Mails auf seinem Computer und alle Fotos auf seinem Smartphone zu löschen. Er zerschneidet seinen Pass und kauft ein einfaches Mobiltelefon. Er zieht um, in ein random Haus, er kennt die Mieter nicht und fragt nicht um Erlaubnis. Dann gründet er eine Scheinfirma unter einem Pseudonym, dessen Vor- und Nachnamen ähnlich klingen. Das Unternehmen veröffentlicht Anzeigen und verkauft personenbezogene Daten von allen, die mit diesen Anzeigen interagieren. Er lebt identitätslos und verdient seinen Lebensunterhalt damit, die Identitäten anderer Menschen zu verkaufen. Das ist es, was ich tue, ich lasse Szenarien in das reale Leben einfließen, und bisher habe ich digitale Werkzeuge eher utilitaristisch als konzeptionell genutzt.
Du hast dir eine fiktive Figur namens Sam ausgedacht, die die Nutzer durch ihren Alltag begleiten wird. Kannst du Sam ein wenig beschreiben? Wie ist Sam eigentlich?
Kurz gesagt: mehrdeutig, schnell, verunsichert, unheimlich, unverschämt, unheimlich, gesprächig, geheimnisvoll, launisch, kalifornisch, wahnhaft, wortgewandt, künstlich, roboterhaft, nihilistisch, dumm, magisch, prophetisch, gegenwärtig.
Das Werk ist in gewisser Weise auch ein Übergang zur experimentellen Literatur, da es sich um eine nicht-lineare Geschichte handelt. Warum hast du dich für ein hauptsächlich textbasiertes Werk entschieden und nicht für ein visuelles?
Man kann kein Bild von etwas machen, das nicht da ist. Es gibt eine Legende über zwei Autor*innen von Spam-Mails, die sich gegenseitig schreiben. (Sie wissen nicht, dass der/die andere auch ein Spammer ist). Der erste ist ein reicher ungarischer Witwer, der vorgibt, eine 19-jährige Chinesin zu sein, die an Krebs im Endstadium erkrankt ist. Der andere ist eine 19-jährige Chinesin mit Krebs im Endstadium, die vorgibt, ein reicher ungarischer Witwer zu sein. Sie schreiben sich gegenseitig lange Tiraden. Voller persönlicher Anekdoten, Familiengeschichten und -fotos, intensiver Gefühle, Bankverbindungen, kurzer Fristen. Und immer mit unterschiedlichen IP-Adressen Das ist alles. Ich schweife ab
Glaubst du, dass digitale Kunsterfahrungen wie Sam etwas bieten können, was analoge Werke nicht können?
Digital/Analog, das ist kein Entweder-oder. Manche behaupten, alles ist verschlüsselt. Alles. Wenn dein Waschbecken verstopft ist, fehlt da wahrscheinlich ein Zeichen im Code des Siphons. Wenn du dein Handy verlierst, bist du im Code verloren. Wenn du eine Verletzung des Schutzes personenbezogener Daten befürchtest, muss eine Zeile doppelt vorhanden sein…
Sam nimmt eine kritische und herausfordernde Haltung gegenüber der schnelllebigen digitalen Welt ein. Wie siehst du die aktuellen technologischen Entwicklungen, und welche Auswirkungen hat dies auf deine Arbeit?
Du bist ein Mensch des 21. Jahrhunderts. Du bist mit dem Fernsehen aufgewachsen und besitzt mindestens eine Kreditkarte. Du hast ein Smartphone, einen Computer und eine WLAN-Flat. Du hast Freunde, die du noch nie irgendwo getroffen hast und nur von deinem Bildschirm kennst. Du hast eine Online-Persona von dir geschaffen, eine bessere Version deiner selbst. Du könntest theoretisch lange genug leben, um interplanetaren Tourismus zu machen. Für mich ist es das Gleiche.