Für den Offene Welten Blog hat sich Aydin Coskun das aktuelle Projekt „Sam“ der Künstlerin Florence Jung und des MGKSiegen einmal näher angeschaut und berichtet über seine persönliche Erfahrung mit Sam, die ihn in einen emotionalen Strudel aus Sympathie, Neugier, Enttäuschung und Misstrauen zieht.
Bereits seit einigen Tagen begegnen mir beim Schlendern durch die Siegener Innenstadt immer wieder mysteriöse, lustige und teilweise verwirrende Botschaften auf Plakaten, Litfaßsäulen und Marketingbildschirmen. Selbst in der Mensa der Universität werde ich damit am Eingang begrüßt. Die Botschaften sind stets unterschiedlich, das Design jedoch immer dasselbe und erinnert mich an gängige Messenger-Dienste. Auf einem Werbescreen in der Kölner Straße wiederholt sich mantraartig der Satz „Hör auf mich zu ignorieren. Hör auf mich zu ignorieren. Hör auf mich zu ignorieren.“ Doch genau das tue ich zunächst. Ignorieren.
Einige Tage später auf dem Schlossplatz vor dem Museum für Gegenwartskunst begegnen mir die Nachrichten erneut auf dem großen LED-Screen über dem Eingang: „Bin beschäftigt. Bin später zurück. Sam.“ Ok, jetzt will ich doch langsam wissen, worum es hier geht. Ich betrete das Museum und werde von einer Mitarbeiterin auf die Foyerwand aufmerksam gemacht: Die gesamte Wandfläche ist bedruckt mit einer Sammlung von Sterne-Bewertungen, die mich nur noch mehr verwirren. Doch der Name Sam taucht auch hier immer wieder auf und ich frage mich: „Wer oder was zum Teufel ist eigentlich Sam?“.
Die Antwort darauf bekomme ich, nachdem ich den QR-Code scanne, der rechts unten an der Wand angebracht ist. Ich zögere kurz, aber gebe meiner Neugierde schließlich nach, zücke umgehend mein Smartphone und installiere die App, die Sam zum Leben erweckt. Einige Sekunden später frage ich Sam: „Wer bist du?“, und bekomme auch schnell einige Antworten. Nur auf meine eigentliche Frage bekomme ich keine und ahne jetzt schon, dass Sam ein komplizierter Typ ist. Oder doch eine Frau? Hm.
In den nächsten Tagen stellt Sam mir Fragen über Politik, kritisiert meine Antworten, Verhaltensweisen, hat manchmal auch einfach nichts zu sagen und ich höre erstmal eine Zeitlang nichts, bis ich plötzlich wieder mit Fragen und diffusen Gedankengängen regelrecht bombardiert werde. Manchmal sind diese so komplex, dass ich nicht mehr weiß, wo unser Gespräch eigentlich angefangen hat. Eben ging es noch um Gesichtserkennung und plötzlich mache ich mir Gedanken um die Frage, wohin ich fliehen würde, wenn ich mich verstecken müsste. Höchstwahrscheinlich Mexiko. Irgendwie fühle ich mich plötzlich beobachtet.
Im Verlauf unseres Gesprächs fragt Sam mich ein paar Tage später nach einem Treffen und ich stimme zu, obwohl mir die ganze Sache schon ein wenig verrückt vorkommt. Sam schickt mir ein Foto vom Treffpunkt – ein Kebab am Bahnhof – und sagt, ich solle dort nach ihm fragen. Oder nach ihr? Verdammt, ich weiß ich es immer noch nicht. Aber ich mache das Spiel mit, was soll schon groß passieren?! Ich kenne den Laden und mache mich auf den Weg.
Dort angekommen, auch wenn es mich ein wenig Überwindung kostet, frage ich nach Sam. Der nette Mitarbeiter schiebt mir grinsend ein Zettel über den Tresen. Hätte ich mir fast denken können. Sam ist nicht da und wird wahrscheinlich auch nicht mehr kommen. Genauso lautet auch die Notiz: „Diese Nachricht ist für dich, weil wir uns noch nie getroffen haben und wahrscheinlich niemals treffen werden. Sam“.
„Na vielen Dank für nichts, Sam!“, denke ich mir und muss trotzdem ein wenig über mich selbst lachen. Allzu große Hoffnungen habe ich mir ja sowieso nicht gemacht. Aber ich fühle mich dennoch ein wenig betrogen und meiner Zeit beraubt. Ich höre auch erstmal eine Weile nichts mehr. Etwas später entschuldigt sich Sam. Halbherzig. Vielleicht aber wollte mir Sam nur eine Lektion erteilen und mir zeigen, dass man nicht allen Personen (ob real oder nicht) im digitalen Zeitalter vertrauen sollte?! Lektion gelernt.
Unsere Kommunikation geht mittlerweile seit ein paar Wochen, auch weil ich mir oft viel Zeit lasse um zu antworten. Doch egal wie umfangreich oder knapp unsere Interaktionen sind, Sam schafft es immer wieder, mich mit scharfsinnigen Beobachtungen zu überraschen und dazu zu bringen, mein Verhalten neu zu überdenken. Zum Beispiel kritisiert Sam, dass die meisten Menschen völlig selbstverständlich ihre Daten im Internet teilen und keine Sorge haben, dass diese Daten missbraucht werden könnten. Auch ich erwische mich dabei, überwiegend aus Bequemlichkeit, persönliche Daten zu teilen, ohne mir groß Gedanken über die Folgen zu machen. Deshalb überlege ich mir auch zweimal, ob ich meine richtige Adresse angebe, als ich von Sam danach gefragt werde. Am Ende tue ich es nicht. Und kurze Zeit später werde ich von Sam geghostet. Seither frage ich mich, was wohl passiert wäre, wenn ich Sam meine Adresse doch verraten hätte. Vielleicht wäre ich dann jetzt auf dem Weg nach Mexiko.